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VII.4. Inklusion ist kein Sahnehäubchen

Wir wollen ein Nordrhein-Westfalen, in dem alle Menschen gleichberechtigt zusammenleben und an den demokratischen Entscheidungen beteiligt werden – unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten, ihrer körperlichen Verfassung, ihrer Herkunft und sozialen Stellung, ihrem Geschlecht, Alter oder ihrer sexuellen Orientierung. Wir wollen eine inklusive Gesellschaft, in der niemand ausgegrenzt wird – auch nicht wegen einer Behinderung.

Die UN-Behindertenrechtskonvention bezieht einen konsequenten, radikalen Standpunkt: Behinderung ist das Wechselspiel zwischen der individuellen Beeinträchtigung der Menschen und den in der Gesellschaft vorhandenen einstellungs- und umweltbedingten Barrieren. Das bedeutet, dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, so dass sich nicht der Mensch mit Behinderung an die Barrieren anpassen muss. Wir brauchen eine inklusive und barrierefreie Gesellschaft, damit alle Menschen an ihr teilnehmen können und sie gestalten können.

Ein gleichberechtigtes Leben für alle bedeutet, am normalen Leben teilhaben zu können: Menschen mit Behinderung leben selbstbestimmt in barrierefreien Wohnungen, können sich auf den ÖPNV, im ländlichen wie im städtischen Raum, verlassen und sind auch bei der Auswahl von Ärzt:innen nicht beschränkt auf einige wenige barrierefreie Praxen. Auch die Teilhabe an dem, was das gesellschaftliche Leben ausmacht, ist für Menschen mit Behinderung normal. Dazu gehört das Treffen mit Freund:innen in der Kneipe, Konzert- und Kinobesuche sowie die Möglichkeit, an Sport- und Freizeitangeboten teilzunehmen. Um das möglich zu machen, müssen wir die UN-Behindertenrechtskonvention konsequent umsetzen.

Eine barrierefreie Umwelt erleichtert das Leben für alle Menschen. Fahrstühle zu den Gleisen sind hilfreich für jeden Menschen mit Gepäck, mit Fahrrad und Kinderwagen, für alte Menschen wie auch für Menschen mit Behinderung. Leichte Sprache ermöglicht Menschen mit geringen Schriftkenntnissen, Älteren oder auch Menschen mit Migrationshintergrund ebenso wie Menschen mit Lernbehinderung besser, ihre Rechte zu verstehen und selbstbestimmt am politischen und sozialen Leben teilzuhaben.

VII.4.1. Leben mit Behinderung heißt oft Ausgrenzung und Armut

In NRW leben knapp 2 Millionen Menschen mit anerkannten schweren körperlichen, geistigen und/oder seelischen Behinderungen, jedoch ist die Zahl der tatsächlich mit Beeinträchtigung Lebenden deutlich höher. Materielle Barrieren sowie ein Denken, das Menschen ohne Beeinträchtigung als Norm setzt und alle aussondert, die dieser „Normalität“ nicht entsprechen, behindern die gleichberechtigte Teilhabe nicht nur von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft, sondern auch von chronisch kranken, älteren oder pflegebedürftigen Menschen.

Die vielen Einzelmaßnahmen der Landesregierung für diese Menschen bleiben vielfach Stückwerk: Das Inklusionsstärkungsgesetz brachte nur kleinere Verbesserungen, teilweise sogar Verschlechterungen für Menschen mit Behinderung. Der Aktionsplan enthält weder überprüfbare, konkrete Ziele, noch werden ausreichend Mittel zur Verfügung gestellt, um ihn umzusetzen. Auch dem Schulgesetz fehlen die finanziellen und personellen Ressourcen für die geforderte schulische Inklusion. Auch das Ausführungsgesetz zum Bundesteilhabegesetz hat den Betroffenen nicht die Möglichkeiten gegeben, eine echte Teilhabe zu gewährleisten, nicht nur, was die Teilhabeplanung und die dort Beteiligten angeht.

Menschen mit Behinderung leben, lernen und arbeiten oft gesondert in Einrichtungen: Heime, Altenpflegeeinrichtungen, Förderschulen und auch Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbM). Dies widerspricht der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Eine gleichberechtigte, selbstbestimmte und gestaltende soziale Teilhabe durch Menschen mit Behinderung kann jedoch nicht abgesondert, sondern nur inklusiv gelingen.

VII.4.2. Mit gutem Beispiel voran

„Nichts über uns ohne uns“ heißt eine Forderung der selbstbestimmten Behindertenbewegung. DIE LINKE NRW will gemeinsam mit den Menschen mit Behinderung und ihren Verbänden in NRW die Grundlagen dafür schaffen und verbessern. Von einer inklusiven Gesellschaft profitieren nicht nur jene, denen man eine Behinderung direkt ansieht, sondern beispielsweise auch Menschen mit Sinnesbehinderung, psychischer Beeinträchtigung oder Lernschwierigkeiten. Sie ist darüber hinaus ein Gewinn für viele Menschen ohne Behinderung, wie Senior:innen, Menschen mit Sprachschwierigkeiten oder Eltern mit Kindern. DIE LINKE NRW hat deshalb ein Teilhabekonzept beschlossen.

Von der Landesregierung fordert DIE LINKE NRW die vollständige Umsetzung der UN-BRK auf der Landesebene und der kommunalen Ebene.

Was tun?

  • Eine systematische Überprüfung aller Landesgesetze und Verordnungen auf Konformität mit der UN-BRK

 

  • Verbindliche Pläne auf Ebene des Landes, der Kreise und Kommunen zur Inklusion mit überprüfbaren Zielen und Fristen, ausgestattet mit genügend Ressourcen und nach Möglichkeit einem nachträglichen Teilhabebericht

 

  • Bereitstellung von Texten in leichter Sprache als Standard

 

  • Die Förderung von Initiativen und öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen, um auf allen Ebenen der Gesellschaft das Verständnis für Menschen mit Behinderung zu erhöhen und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde zu unterstützen

 

  • Unabhängige Beratungsstellen und aufsuchende Beratung nach dem Prinzip des Peer-Counseling aufbauen und fördern

VII.4.3. Bauen, Wohnen und Verkehr

Straßen, Wohnhäuser, Fabriken, öffentliche Einrichtungen: Überall können teilweise kleine Veränderungen wie die Absenkung von Bordsteinen oder breitere Türen mehr Teilhabemöglichkeiten für viele Menschen bedeuten. Wir wollen, dass die Bedürfnisse aller Menschen beim Bauen und im ÖPNV berücksichtigt werden. Dabei müssen die Vertretungen von Menschen mit Behinderungen bei der Planung beteiligt werden. Auch nach der Novellierung der Landesbauordnung zum 1. Juli 2021 finden sich zu den Enthinderungsfragen unbestimmte Rechtsbegriffe. Die Landesbauordnung ist diesbezüglich zu überarbeiten.

Was tun?

  • Den grundsätzlich barrierefreien Bau aller privaten und öffentlichen Gebäude, sowie deren Sanierung, verbindlich in der Landesbauordnung festschreiben

 

  • Fördermittel für den barrierefreien Umbau von Bestandsgebäuden, den barrierefreien Ausbau des ÖPNV, Haltestellen, für Induktionsschleifen und Leitsysteme für blinde und Sehbehinderte bereitstellen

 

  • Das Personal im öffentlichen Personenverkehr zum Thema Barrierefreiheit und Inklusion schulen

VII.4.4. Bildung und Arbeit

DIE LINKE will eine inklusive Bildung von der Kita bis zur Uni verwirklichen. Die Trennung von Menschen mit und ohne Behinderung im Bildungssystem muss ein Ende haben. Dazu müssen Kitas und Schulen passend ausgestattet werden.

Wir brauchen einen inklusiven Arbeitsmarkt mit inklusiven und barrierefreien Betrieben, damit auch Menschen mit Einschränkungen einen leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt finden können.

Was tun?

  • Inklusion in den Kitas durch bessere Sach- und Personalausstattung und eine veränderte Ausbildung von Erzieher:innen fördern

 

  • Die Standards für inklusive Schulen umsetzen: barrierefreie Schulgebäude, kleinere Klassen, multiprofessionelle Unterstützungsteams, wohnortnahe Beschulung, mehr sachliche und personelle Ressourcen sowie eine entsprechende Aus- und Weiterbildung von Lehrer:innen.

 

  • Das Budget für Arbeit als Instrument zur Eingliederung von Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt einsetzen

 

  • Beschäftigte Menschen mit Behinderungen in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) müssen endlich einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsvertrag erhalten und gleiche Rechte wie andere Arbeitnehmer:innen. Dafür muss sich das Land NRW auf Bundesebene einsetzen.

 

  • Im Bundesrat für eine deutliche Erhöhung der Ausgleichsabgabe gestaffelt von 250 auf bis zu 1000 € eintreten und die Beschäftigung in der WfbM in reguläre Arbeitsverhältnisse umwandeln, mit Arbeitsvertrag und Tarif- oder Mindestlohn

 

  • Die Vergabe von öffentlichen Aufträgen bevorzugt an Inklusionsunternehmen und Betriebe mit Inklusionsabteilungen knüpfen. Entsprechende Kriterien sind in das Tariftreue- und Vergabegesetz einzufügen. 

 

  • Der Zuschuss für die Blindenhörbücherei muss deutlich erhöht werden.

VII.4..5. Gesundheit und Pflege

Der barrierefreie Zugang zum Gesundheitssystem ist von besonderer Bedeutung. Arztbesuche dürfen nicht an unzugänglichen bzw. nicht barrierefreien Praxen scheitern. Daher wollen wir den barrierefreien Umbau festlegen und hierfür Fördermittel bereitstellen.

Im eigenen Zuhause zu leben, ist ein menschliches Grundbedürfnis. Das wollen wir mit einem Ausbau entsprechender Unterstützungsleistungen für alle Menschen ermöglichen. Wer in stationären Einrichtungen lebt, hat Anspruch auf Schutz gegen Willkür und Gewalt.

Was tun?

  • Umbaumaßnahmen für Barrierefreiheit bei Arztpraxen und medizinischen Einrichtungen müssen gefördert werden.

 

  • Ein flächendeckender Ausbau von Traumaambulanzen und bessere Versorgung mit Therapeut:innen müssen vorangebracht werden

 

  • Die persönliche Assistenz ebenso wie das persönliche Budget, damit Menschen mit Behinderung selbstbestimmt wohnen, leben, lernen und arbeiten können, müssen nach individuellem Wunsch in jeder Lebenslage gefördert werden.

 

  • Es muss einen Rechtsanspruch auf gleichgeschlechtliche Pflegekräfte geben.

 

  • Es sind Maßnahmen gegen Gewalt in stationären Einrichtungen zu ergreifen und zu kontrollieren.

 

  • Die Heimbeiräte müssen gestärkt werden.

VII.4.6. Digitalisierung und Medien als Inklusionschance

Auch der Zugang zu Information und Kommunikation muss barrierefrei sein, damit die Inklusion gelingen kann. Viele Menschen mit Behinderung nutzen bereits digitale Möglichkeiten der Information, Kommunikation und Beratung. Nicht alle jedoch verfügen über dazu notwendige technische Ausrüstung oder voraussetzende Fähigkeiten. Laut Artikel 4 der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichten sich die Vertragsstaaten, barrierefreie Informationen über Mobilitätshilfen, Geräte und unterstützende Technologien, sowie andere Formen von Assistenz, Unterstützungsdiensten und Einrichtungen zur Verfügung zu stellen. Die digitalen barrierefreien Möglichkeiten sind groß. Diesbezügliche Angebote für Menschen mit Behinderung bisher eher gering.

Wir wollen ein Internet der Partizipation. Mit dem Internet ist es möglich, dass mehr Menschen an Kultur und Gesellschaft, an Unterhaltung, Information, Politik, Wirtschaft und Arbeit teilhaben, denen die unmittelbare Teilnahme nicht möglich ist. Dazu muss es barrierefrei und flächendeckend zur Verfügung stehen. Internetangebote dürfen nicht exkludierend sein. Wir wollen die Barrierefreiheit von Netzangeboten fördern.

Die öffentlich-rechtlichen Medien müssen mehr für Inklusion tun. Wir brauchen mehr Angebote für Gehörlose und Blinde, mehr Angebote mit einfacher Sprache. Idealerweise sind alle Sendungen barrierefrei zu konzipieren. Auch bei den privaten Medien im Land soll verstärkt auf Barrierefreiheit und Zugänglichkeit geachtet werden.

Was tun?

  • Die Barrierefreiheit von Informations-, Kommunikations- und Notdiensten muss gewährleistet sein.

 

  • Mehr Barrierefreiheit und mehr inklusive Angebote in den Medien und im Netz verwirklichen

 

  • Geeignete Endgeräte für Bedürftige mit Behinderung zur Verfügung stellen

 

  • Die Verwaltungen müssen barrierefrei werden, vom Formular bis zum Gebäude. Dazu gehört das Vorhalten von Erläuterungen in Gebärdensprachvideos und Braille-Dokumenten.

 

  • Digitale Angebote zur Inklusion fördern, bekannt machen und dauerhaft finanzieren

 

  • Die „inklusivste Kommune in NRW“ auszeichnen, diese hätte dann einen Vorbildcharakter und kann als „Modellkommune“ dienen.

VII.4.7. Politische Partizipation

Die Teilhabe für Menschen mit Behinderung am politischen Partizipationsprozess wird durch vielfältige Barrieren erschwert. Deshalb sind nur wenige Menschen mit Behinderungen politisch aktiv.

Was tun?

  • In der Gemeinde- und Kreisordnung muss die verbindliche Schaffung von Ausschüssen und Beiräten mit Entscheidungskompetenz und Rederecht in Stadträten und Kreistagen, welche von den Betroffenen selbst in einer Wahl gewählt werden, festgeschrieben werden.

 

  • Die barrierefreie Zugänglichkeit zu Gebäuden und Sitzungsräumen muss immer gewährleistet sein.

 

  • Die Sitzungsvorlagen müssen auch in leichter Sprache zur Verfügung stehen.

 

  • Die Stellung des bzw. der Landesbehindertenbeauftragten, des Landesbehindertenbeirates und der Behindertenvertretungen in den kommunalen Parlamenten müssen durch eine entsprechende Änderung der Gemeinde-, Kreis- und Landschaftsverbandsordnung gestärkt werden.

 

  • Flächendeckende Umsetzung des Wahlrechtes für Menschen unter vollständiger Betreuung

 

  • Die umfassende Barrierefreiheit von Wahllokal, Wahlverfahren und Wahlmaterialien muss sichergestellt sein

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