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VI.3. Ausbildungsplätze: Mangel beseitigen, Qualität verbessern

Nach der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen ist allen Jugendlichen „die umfassende Möglich-keit zur Berufsausbildung und Berufsausübung zu sichern“ (Artikel 6). Die Notwendigkeit einer qualifi-zierten Berufsausbildung ist unbestritten. Gerade in NRW gibt es aber einen dringenden Handlungsbe-darf. Laut dem aktuellen Berufsbildungsbericht des Bundesinstituts für Berufsbildung (BiBB-Datenreport 2021) hat jeder fünfte junge Mensch in NRW keine abgeschlossene Berufsausbildung!

Im „Ausbildungskonsens NRW“ wurde 1996 versprochen: „Jeder junge Mensch in NRW, der ausgebildet werden will, wird ausgebildet.“ 25 Jahre später ist das Versprechen immer noch nicht eingelöst. Den Mangel an qualifizierten Ausbildungsplätzen haben die landesweiten und örtlichen Programme (wie „Kein Abschluss ohne Anschluss“ oder „Neues Übergangssystem Schule – Beruf“) trotz aller Bemühungen der Beteiligten nicht beseitigen können.

VI.3.1. Ausbildungsqualität im dualen System verbessern

Analysen des BIBB anhand der Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) zeigen, dass die betriebliche Ausbildungsbeteiligung in den letzten Jahren rückläufig war. Lag die Ausbildungsbetriebsquote lange Zeit bei rund 24 Prozent, ist sie 2020 unter 20 Prozent gesunken. Auch der Anteil der in eine berufliche Ausbildung eingemündeten Bewerber:innen an allen gemeldeten Bewerber:innen fiel mit 45,7 Prozent niedriger aus als noch im Jahr zuvor (2019: 48,8 Prozent). Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit stellt dies den geringsten Wert seit der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2009 dar. In NRW gab es 2019 rund 115.000 Bewerber:innen, lediglich bei 47.000 mündete die Bewerbung in ein Berufsausbildungsverhältnis.

Zur Ausbildungsmisere trägt auch die hohe Quote aufgelöster Verträge bei. Häufig sind schlechte Ausbildungsbedingungen der Grund für Vertragsauflösungen. Laut dem Ausbildungsreport 2020 des DGB sind 30 Prozent der Auszubildenden unzufrieden. Die Abbruchquote lag dem BIBB-Bericht 2021 zufolge bei 26,9 Prozent.

Laut einer Studie der Universität Bielefeld (4. Ranking Politische Bildung 2020) ist der Anteil der politischen Bildung an der Berufsschule gesunken. Demnach liegt der Anteil der politischen Bildung an der gesamten Ausbildungszeit bei 1,7 Prozent und wird in NRW häufig nicht von Fachlehrer:innen unterrichtet.

Was tun?

  • Wer nicht ausbildet, soll zahlen! NRW muss sich dafür einsetzen, dass auf Bundesebene endlich eine Ausbildungsplatzumlage eingeführt wird.

 

  • Unabhängige „Inspekteur:innen“ einsetzen: Für Auszubildende mit erhöhtem Ausbildungs- und Betreuungsbedarf sollten unabhängige Fachberater:innen, wie z. B. Sozialarbeiter:innen und Sonderpädagog:innen, die betriebliche Ausbildungskapazität überprüfen und die Betriebe beraten und unterstützen.

 

  • Politische Bildung in der beruflichen Bildung gleichwertig verankern und von Fachlehrkräften unterrichten lassen

 

  • Mehr Fachpersonal an den berufsbildenden Schulen einstellen

 

  • Ein NRW-weites, kostenfreies Ausbildungsticket analog dem für Studierende einführen, auch um die Ausbildung attraktiver zu machen

 

  • Kapazitäten im schulischen öffentlichen Berufssystem ausbauen

 

  • Ausbildende in die Lage versetzen, eine pädagogische und fachbezogene Beratung zu realisieren, um Auszubildende zu unterstützen und zu begleiten

Das Gros der Schüler:innenschaft im vollzeitschulischen System wird an berufsqualifizierenden Schulen für Gesundheits-, Sozial- und Erziehungsberufe ausgebildet. Dieses Ausbildungsplatzangebot muss unverzüglich weiter ausgebaut werden. Zu viele junge Leute, die an einer Ausbildung in diesen Berufen interessiert sind, werden abgewiesen. Das verschärft den ungedeckten Bedarf an Fachkräften im Erziehungswesen, der Kranken- und Altenpflege und weiteren Bereichen.

Folgt man den Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamts, so ist die Anzahl privater beruflicher Schulen in Deutschland ausgehend von gut 1.200 Schulen zu Beginn der 1990er Jahre auf gut 2.158 Schulen im Jahr 2019/20 gewachsen. Mittlerweile unterrichten bundesweit 17.500 Lehrkräfte – davon gut 9.300 teilzeitbeschäftigt – die 240.000 Schüler:innen an den privaten beruflichen Schulen, die mittlerweile genau 10 Prozent der Schüler:innen an allen (öffentlichen und privaten) beruflichen Schulen ausmachen. Mittlerweile lernen 7,7 Prozent der Schüler:innen aller beruflichen Schulen in NRW im Schuljahr 2019/20 an privaten beruflichen Schulen.

Was tun?

  • Die Ausbildungskapazität für Gesundheits-, Sozial und Erziehungsberufe sofort deutlich ausweiten

 

  • Ausbildung von pharmazeutischen und medizinischen Assistenzberufen sowie Gesundheitsfachberufen und mit Anspruch auf elternunabhängiges BAföG

 

  • Die Berufliche Bildung findet in öffentlichen berufsbildenden Schulen statt; keine weitere Privatisierung dieses Bildungsbereichs.

VI.3.2. Das Übergangssystem weiter umbauen

Laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung plant ein Zehntel der ausbildungsberechtigten Betriebe ihr Angebot an Ausbildungsplätzen im Ausbildungsjahr 2021/22 einzuschränken oder ganz darauf zu verzichten. Damit wächst die Anforderung an die Landespolitik, jedem jungen Menschen eine Ausbildung gemäß seinen Neigungen und Fähigkeiten anzubieten.

Neben einer Ausbildungsplatzoffensive bedarf es dafür auch öffentlicher und sozialpädagogisch begleiteter Ausbildungsmaßnahmen anstelle von perspektivlosen Warteschleifen. Der Großteil der jungen Menschen im Übergangssektor Schule – Beruf (43,2 Prozent) hat die Schule mit Hauptschulabschluss verlassen, 19,2 Prozent aller Anfänger:innen verfügten über einen Realschul- oder gleichwertigen Abschluss. 29,9 Prozent konnten keinen Schulabschluss vorweisen.

Das Übergangssystem mit jährlichen Kosten von mehreren Milliarden Euro steht seit Längerem in der Kritik von Politik, Praxis und Forschung. Es besteht aus einem Sammelsurium von Maßnahmen, in das die nicht in Ausbildung vermittelten Jugendlichen abgeschoben werden, häufig ohne Aussicht auf eine anschließende qualifizierte Ausbildung. Dieses System erfüllt seine Aufgabe, in reguläre Berufsausbildung überzuleiten, nur sehr unzulänglich. Zudem hat es ausgrenzende und diskriminierende Effekte. Daher sollten seine Aufgaben einerseits dem Schulsystem und andererseits dem dualen System übertragen werden. Auf diese Weise ließen sich die bisher dem Übergangssystem zufließenden Mittel sehr viel effektiver einsetzen.

Benachteiligten Jugendlichen und Heranwachsenden müssen darüber hinaus notwendige und geeignete Hilfen zur Verfügung gestellt werden. Die dafür bestehenden gesetzlichen Grundlagen, insbesondere der § 13 SGB VIII, müssen angesichts sich verschärfender Jugenderwerbslosigkeit und wirtschaftlicher Schieflagen verstärkt angewendet werden.

In Betrieben ist die „assistierte Ausbildung“ für Jugendliche mit Unterstützungsbedarf auszubauen, derzeit erhalten 2.800 Jugendliche diese Unterstützung. Die Ausbildungsdauer der „assistierten Ausbildung“ muss gegebenenfalls zeitlich gestreckt werden.

Angesichts des historischen Einbruchs bei neuen Ausbildungsverträgen und zur Abwendung des zu erwartenden Fachkräftemangels fordert DIE LINKE eine Ausbildungsgarantie für Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben. Neben einer Ausbildungsverpflichtung zumindest für größere Unternehmen soll eine überbetriebliche (steuerfinanzierte) Ausbildung die Ausbildungsplatzlücke schließen.

Was tun?

  • Stopp der Überweisungen in das „Übergangssystem“, stattdessen reguläre Ausbildungsplätze oder schulische Weiterqualifizierung

 

  • Assistierte Ausbildung für Jugendliche mit Unterstützungsbedarf als flächendeckendes Angebot einrichten

 

  • Ausbildung ist Pflicht für größere Unternehmen oder Ausbildungsabgabe

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